Bemerkenswert scheint mir, dass Frauen und Männern meine Autobiografie "Die Überleberin. Jahrzehnte in Atlantis" Wien-Mülhausen 2008 völlig anders lesen. Speziell auf die ganzheitliche Konzeption meines Buchs reagieren die Geschlechter grundverschieden.
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Ich war bemüht, alle Seiten des Lebens so darzustellen, wie es ihrer Bedeutung im realen Leben entspricht. So kommen darin nicht nur die wechselvollen Beziehungen zu meinen Kindern vor, sondern auch Haustiere als Mitgeschöpfe der Familie. Wie im „richtigen Leben“ spielen auch im Buch Liebes- und Freundschaftsbeziehungen ebenso eine Rolle wie die politischen Ereignisse oder die berufliche Entwicklung und Tätigkeiten der Verfasserin. Wo es kulturhistorischen Sinn macht, werden Banalitäten des Alltags – wie der Kauf eines alten Autos oder die gastronomischen Defizite in Ostseebädern in DDR-Zeiten - nicht ausgespart, denn ihnen eignet ein symbolischer Charakter.
Die Besprechungen männlicher Rezensenten haben mir erst zum Bewusstsein gebracht, dass vielen Männern – anders als Frauen - das Alltagsleben mit seinen Freuden und Problemen nicht nur banal erscheint, sondern unwichtig, unter Umständen sogar peinlich und auf alle Fälle nicht berichtenswert. Zubereitung und Genuss von Speisen, Beziehungen innerhalb der Familie, Garten- und Wohnungspflege, Urlaubs- und Feiertagsgestaltung, Umgang mit Geld u.Ä. sind für sie triviale Themen, die ihrer Meinung nach nichts Wesentliches über die Person oder die Zeit aussagen. Deshalb ging meinen mir durchaus wohlwollenden Rezensenten die Erwähnung von „Ausflugszielen, Autopannen, Familienfeiern, Jugendweihen, Katzenkrankheiten … gehörig auf die Nerven“. Sie sahen darin meine „Unfähigkeit, das umfangreiche biografische Material literarisch zu bündeln“ und ertrugen es nur deshalb, weil mein „Kampfgeist, … Selbstkritik, … die Begeisterungsfähigkeit, … das Streben nach Gemeinschaftlichkeit und natürlich die Leidenschaft für Politik“ sie von dem Buch „nicht loskommen ließ“.
Nun besteht selbst ein langes und sehr vielfältiges Leben wie das meine im wesentlichen aus Alltagssituationen und das Bewältigen großer historischer Zäsuren, von Krisen und Katastrophen stellt nur einen vergleichsweise geringen Teil des Lebens dar. Wie man sich einer ungewöhnlichen Herausforderung stellt, sagt durchaus etwas über eine Person aus. Aber ohne Kenntnis des Alltagsverhaltens eines Menschen, ohne zu erfahren, was ihm oder ihr tagtäglich abverlangt wird und wie er sich mit banalen Anforderungen auseinandesetzt, was ihn/sie glücklich oder traurig macht, wo er/sie fehlbar ist, wissen wir nicht viel über eine Person und nur wenig über die Zeit oder die Verhältnisse, in denen sie lebt. Sie wäre keine einigermaßen glaubhafte Gestalt, sondern eine heldische Pappkameradin.
„Quellen gehören ins Archiv.“, ist ein anderer „männlicher“ Einwand gegen meine "Detailversessenheit". Wenn ich aber aussagekräftige Quellen ausklammere oder nur interpretierend zusammenfasse, wie kann sich der Leser/die Leserin ein eigenes Urteil bilden?
Leserinnen haben mein Konzept der Ganzheitlichkeit ausnahmslos angenommen: Sie begrüßten die „faktenreichen Geschichten … aus einem Lebensalltag“ aus denen „ein Stück DDR-Geschichte [entstanden] sei, die nicht der Deutungshoheit derer überlassen wird, denen dieses Leben fremd war“. Eine Rezensentin lobte das Buch, "weil die Autorin die historische Ebene freimütig mit der persönlichen verbindet."
Leserinnen hielten gerade die Darstellung derjenigen Seiten des Lebens für wichtig und aussgefähig, die von Männern als Mangel an Schreibprofessionalität bewertet werden: „Ich hatte bisher noch keine Autobiografie gelesen, die so gründlich und so offen das Privatleben analysiert. Nicht nur die Familienbeziehungen, die Liebesbeziehungen, die Kinderfreuden und Kindersorgen, … auch die unterschiedlichen Erfahrungen mit Haustieren". Historiker und Historikerinnen, die sich für konkrete Themen des DDR-Alltags interessieren, würden später einmal auf ihre Kosten kommen.
Woran liegt es, dass sich männliches und weibliches Lesen, aber auch biografisches Schreiben so stark unterscheiden? Könnte es sein, dass auch noch im 21. Jahrhundert die uralten Rollenbilder vom Mann, der ins feindliche Leben hinausgeht, und der Frau, die an Haus und Herd gebunden ist und damit den Alltagsbanalitäten ihre Aufmerksamkeit schenken und für tausend Nebensächlichkeiten Zeit haben muss, das Lesen und Schreiben der Geschlechter prägt?