Samstag, 23. Oktober 2010

Meine Befreiungsgeschichte

Von der Nazi-Diktatur hat sich das deutsche Volk bekanntlich nicht selbst befreit. Dazu war die gewaltige Militärmacht eines zwar heterogenen, aber große Teile der Welt umfassenden Bündnisses erforderlich. Die Befreiung von diesem menschenfeindlichen System kostete einen hohen Blutzoll und hinterließ weite Teile Europas in Trümmern. Das NS-Regime war weder von oben reformwillig, noch ließ der Staatsterror Reformen von unten zu.

Anders verhält es sich mit den selbstzerstörerischen, hierarchischen, patriarchalen und bürokratischen Strukturen des „Realsozialismus“, der von unseren Mainstream-Medien als „zweite Diktatur“ der braunen Diktatur gleichbewertet wird.
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In allen Ostblockstaaten gab es immer wieder Reformversuche und Widerstandsaktionen von unten, die im Herbst 1989 sogar wenige Monate lang erfolgreich waren, schlussendlich jedoch zur Niederlage des Versuchs führten, eine alternative, wirklich menschenfreundliche Gesellschaft zu errichten.

Gegen die „Machtübernahme“ der Nazis 1933 fanden weder ein Aufstand im Lande, noch Aktionen des Völkerbunds statt. Den Westmächten war das neue „Bollwerk gegen den Bolschewismus“ in der Mitte Europas nicht unrecht. Unter diesem Gesichtspunkt durfte sowohl Mussolini als auch Hitler aufrüsten und ihre Eroberungspolitik erfolgreich in Gang setzen.

Als Zeitzeugin des Anschlusses meiner Heimat Österreichs an das Nazireich, möchte ich exemplarisch an die Ereignisse von 1938 erinnern:

Der Weg ins Verderben war lange vor 1938 bereits unumkehrbar geworden. Die Weichen dafür waren be¬reits gestellt, als die österreichischen Arbeiter im Juli 1927 in ihrem Kampf gegen die rechten Kräfte unterlagen. Bereits die Dollfuß-Regierung errichtete 1933 einen „autoritären Ständestaat“; in einem von der SPÖ halbherzig geführten Bürgerkrieg zwischen den christlich-sozialen Heimwehren und dem Republikanischen Schutzbund wurde letztgenannter geschlagen, die Gewerkschaften und die SPÖ verboten. Diese Politik erwies sich als selbstzerstörerisch. Am 20. Juli 1934 fand ein Nazi-Putsch statt, der Bundeskanzler Dollfuß das Leben kostete. Das Zusammentreffen seines Nachfolgers Schuschnigg mit Hitler auf dem Ober¬salzberg führte zu einem Ultimatum, das das Verbot der österreichischen NSDAP aufhob, alle in Haft befindlichen Nazis, einschließlich der Dollfuß-Mörder freiließ und de facto Österreichs Todesurteil war. Schuschnigg sagte die zum 9. März 1938 vorgesehene Volksabstimmung ab, verhinderte damit die letzte Möglichkeit zu einem antifaschistischen Volkswiderstand und trat zurück. Nachdem auf diese Weise über die Jahre alle Hitlergegner einzeln ausgeschaltet worden waren, gab es keine Gegenwehr von unten, noch Proteste von außen, als deutsche Truppen am 13. März 1938 Österreich besetzten und es zum Bestandteil des Deutschen Reichs machten. Die Chance, die braune Pest ohne Krieg zu beseitigen, war verspielt worden.
Hitlers Einmarsch in Österreich gestaltete sich zu einem Triumph. Das durch lange Jahre wirtschaftlichen Niedergangs, Arbeitslosigkeit und Armut geplagte und nach vielen Enttäuschungen politisch durch die Nazis verführte Volk erhoffte sich mehrheitlich bessere Zeiten durch die „Heimkehr ins Reich“. Dort war es seit 1933 aufwärtsgegangen. Tatsächlich schuf die deutsche Aufrüstung Arbeitsplätze, Geld kam in die Staatskassen, das stark zerlöcherte soziale Netz der Weimarer Republik konnte geflickt und verschönert werden. Arbeitsdienst wurde schmackhaft gemacht durch die Idee der klassenübergreifenden Volksgemeinschaft, in der jeder Anspruch auf Arbeit und Brot und auf Kraft durch Freude-Urlaube hatte. Warum sollten sich die einfachen Leute um die Minderheit der von diesen Segnungen Ausgegrenzten scheren? So stimmten nur die Juden und die inzwischen dezimierten Sozialisten, sowie Anti¬faschisten verschiedener politischer Couleurs nicht in den Jubel ein.

An jenem schicksalsschweren Freitag, dem 11. März 1938 waren ungewöhnlich viele Menschen auf der Kärtnerstraße, darunter besonders viel Polizei.
Es muss um 19.30 Uhr gewesen sein, als alle Polizisten wie auf ein unhörbares Kommando aus ihren Uniformen Hakenkreuz-Arm¬binden hervorzogen und am Ärmel befestigten. Jubel brauste auf. Menschen umarmten sich oder rissen den rechten Arm hoch und schrien: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“.

Zur Minderheit, die in diesen Jubel nicht einstimmte, gehörte auch ein Teil der humanistisch oder christlich gesinnten Bevölkerung. Manche von ihnen begriffen, dass das Ende der ersten österreichischen Republik auch für sie Krieg und Verderben nach sich ziehen würde. Auch wurden nicht alle politisch indifferenten Menschen plötzlich zu fanatischen Nazis oder Antisemiten. Es gab auch weiterhin Menschen wie meine Grundschullehrerin Marie Fitzga, die während der gesamten Nazi- und Kriegszeit ihre humanistischen Ansichten niemals aufgab.
Für mich und meine Familie hieß es allerdings, sich intensiv auf die Emigration vorzubereiten.
Alle Unternehmungen und Vorbereitungen auf die Auswanderung fanden in einer Atmosphäre der Willkür und Gewalttätig¬keit, der Verängstigung und Beunruhigung statt. Ständig gab es neue Anordnungen, die zu berücksichtigen waren. Immer wieder ver¬schwanden Bekannte und Freunde in Gefängnissen und Lagern oder nahmen sich das Leben; manchen misslang es, wie meinem Onkel Bruno, der sich erschießen wollte und dabei sein Augenlicht verlor, als Behinderter deportiert und in Auschwitz vergast wurde.
SA-Leute zwangen alte Juden, öffentliche Plätze unter dem johlenden Beifall des Pöbels mit Zahnbürsten zu reinigen. Diese barbarische Praxis hat der Bildhauer Alfred Hrdlitsch¬ka+ in seinem eindrucksvollen Mahnmahl verewigt.
An den Konsulaten der USA, Großbritanniens, Frankreichs und der lateinamerikanischen Staaten bildeten sich Tag für Tag Schlangen Aus¬reisewilliger, die oft von der Polizei drangsaliert oder von Nazi-Passanten angepöbelt wurden. Keines dieser Konsulate hätte mir ein reguläres Visum ausgestellt. Kindertransporte gab es damals noch nicht, für ein Dienstmädchenpermit war ich zu jung, in die USA kam ich nicht, weil die jährliche Einwandererquote aus Österreich längst überschritten war. Mit Hilfe von Schleusern schaffte ich es nach Frankreich. Von dort gelangte ich im Februar 1939 nach England, weil mir ein unbürokratischer Konsularbeamter in Paris gesetzwidrig ein Dienstmädchenpermit erteilte. Dort gelang es mir, meiner Schwester einen Platz in einem Kindertransport zu beschaffen. Auf diese Weise überlebten wir das NS-Regime und auch den Krieg. Dieser brach bekanntlich am 1. September 1939 aus und spätestens nach der Schlacht von Stalingrad 1942 erwies sich, dass Hitler den Krieg nicht gewinnen würde. Zu keiner Zeit gelang es, den antinazistischen Widerstand in Deutschland, Österreich oder in den besetzten Gebieten zu bündeln und niemals kam es zu einer erfolgreichen Selbstbefreiung. Widerstandsaktionen, darunter der erfolglose Putschversuch einiger Wehrmachtsoffiziere von 1944, nationale Befreiungsaktionen in einigen besetzten Ländern, sowie der Aufstand im Warschauer Ghetto waren heldenhafte, aber erfolglose Versuche, das Regime zu stürzen. So näherte sich der von Nazideutschland angezettelte Krieg erst seinem Ende, als sowjetische Truppen diesen unaufhaltsam zu seinem Ursprung zurückdrängten. Ungeachtet der Deformationen des stalinistischen Systems gelang es den Völkern der UdSSR, das Nazireich militärisch zu schlagen. Ihr unaufhaltsames Vordringen nach Westen zwang die Westmächte im April 1944 endlich zur Eröffnung der Zweiten Front in Europa und ermöglichte damit den gemeinsamen Sieg der Alliierten über Hitlerdeutschland. Schließlich wollten die Westmächte ihre russischen Verbündeten nicht erst am Ärmelkanal in die Arme schließen. Es dauerte dann noch ein ganzes Jahr, ehe Nazi-Deutschland kapitulierte.
Was nach Kriegsende über die deutschen Zustände, ganz besonders in der sowjetischen Besatzungszone in England gedruckt wurde, war so widersprüchlich, dass wir, mein Mann und ich, uns in der englischen Emigration kein klares Bild der Verhältnisse machen konnten. Es erfüllte uns aber mit Zuversicht, dass sich in der sowjetischen Zone SPD und KPD zusammengetan hatten, dass es eine Landreform gegeben hatte, dass alle alten Nazis in den Schulen durch Neulehrer ersetzt worden waren, dass es neue Richter und Staatsanwälte gab und alle Nazigesetze unwirksam geworden waren. Meine Gefühle waren ohnehin zwiespältig. Einerseits empfand ich mein Weggehen aus England als Verlust. Aber weit stärker als dieses Gefühl war der Wunsch, dabei zu sein, mitzumachen, dort zu leben, wo etwas Neues, für mich sehr Wichtiges entstehen sollte. Ich war voller Entschlossenheit und innerer Genugtuung darüber, dass ich das Glück haben würde, mein Leben einer wirklich wichtigen und wertvollen Sache, dem Aufbau einer menschlichen und friedlichen Gesellschaft, zu widmen. Auch mein Mann war überzeugt, dass er sich in seiner Heimat wieder politisch und beruflich einbringen können würde. Das erwies sich allerdings als eine Illusion, da er wegen seiner kritischen Haltung Berufsverbot erhielt und fortan seinen (durchaus ausreichenden) Unterhalt durch private Übersetzungsarbeiten bestreiten musste. Auch mein Leben in diesem Atlantis begann mit einer Zeit leidvoller
Konfrontation mit Realitäten, die ich nicht erwartet hatte und auf die
ich nicht vorbereitet war. Nirgends kam die bornierte „realsozialistische“ Praxis ihren utopischen Potenzen so nah wie in der DDR und verfehlte sie doch mit so weitreichenden Folgen.
Das Alltagsleben in der unmittelbaren Nachkriegszeit war weniger als heute von Gewalt gegen Schwächere und Hilflose geprägt. Vielmehr herrschte trotz allem ein unverwüstlicher Optimismus. Das hing damit zusammen, dass es anders als heute eine insgesamt positive Erwartungshaltung gab. Der Krieg war zu Ende, und die meisten Menschen waren überzeugt, dass es, ganz gleich, wie schrecklich die Gegenwart war, nur besser werden könne. Und viele waren entschlossen, sich daran tatkräftig zu beteiligen.
In vielem entsprach jedoch die Wirklichkeit keineswegs einer Gesellschaft von Gleichen oder Gerechten. Die in diesen ersten Jahren gemachten
Erfahrungen zwangen mich schließlich, mich mit den Tatsachen zu
arrangieren. Erneute Emigration zurück in die, wie ich damals meinte,
endgültig zurückgelassene Welt des Kapitalismus erschien mir unerträglich.
Mir wurde die Möglichkeit geboten, an der Vorstudienanstalt (später ABF) mein Abitur zu machen, ich konnte studieren, promovieren und mich habilitieren. Ich durfte alle möglichen gehobenen Tätigkeiten ausüben, allerdings immer als Stellvertreterin. Ordentliche Professorin wurde ich nie, das ließ meine Kaderakte und das obrigkeitliche Misstrauen auch gegenüber einer unbequemen Ex-Ehefrau eines Abweichlers nicht zu.
Dennoch bin ich auch heute noch der Meinung: „Die Gründung der DDR war ein Schritt von großer historischer Tragweite. Auf deutschem Boden, auf den von
den Nazis hinterlassenen Trümmern und ohne finanzkräftige Geldgeber,
die einen schnellen Aufbau auch der Konsumgüterindustrie
ermöglicht hätten, entstand ein Staat des Friedens und des Fortschritts“.
Zur Zeit der Wende 1989 glaubte ich, die Utopie, der ich mich verschrieben
hatte, könnte sich nun, von ihren bürokratischen, hierarchischen
und patriarchalen Schlacken befreit, wie Phönix aus der Asche erheben. In der Tat hatten sich in den Jahren der DDR die Bürger und Bürgerinnen trotz dieser Strukturen so weit emanzipiert, dass sie aus eigener Kraft das System reformierten. Sie waren jedoch zu uneinig, zu schwach und zu unreif und auch das außenpolitische Bedingungsgefüge ermöglichte es nicht, die von einer beachtlichen Minderheit ersehnte Vision einer alternativen Gesellschaft durchzusetzen. Dennoch stellen die wenigen Monate, in denen ich beobachten konnte, wie sich zuvor indifferente Menschen politisierten und für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz engagierten, die befreiendsten Erlebnisse meines Lebens dar.
Dieser Text war ein Beitrag zu einem Symposium, der nicht in die nachfolgende Publikation aufgenommen wurde.