Donnerstag, 28. Januar 2010

Reicht Zivilcourage?

Am 27.01.10 konnte man bei ARD um 20.15 Uhr einen bemerkenswerten Film sehen. Er behandelte auf neuartige Weise die Frage, woran es liege, dass das Vertrauen der Bürger in Recht und Gesetz dahinschwindet. Auf den ersten Blick schien es, als sollten hier wieder einmal ausländische jugendliche und weniger jugendliche Gewalttäter als Schuldige präsentiert werden. Aber mitnichten! ...

Nicht nur führt Götz George den eigenbrötlerischen, in die Haussmannstraße in Berlin-Kreuzberg nicht recht passenden Antiquar Peter Jordan als einen höchst widersprüchlichen, in kein Schema passenden, konservativen, aber dennoch lern- und liebesfähigen älteren Herrn vor. Auch die Jugendlichen, vor allem das kroatische-kossowarische Brüderpaar Afrim und sein älterer, vom Jugoslawienkrieg noch härter gezeichneter Bruder sind keineswegs einschichtige Sadisten. Seit der Ermordung ihrer Eltern kümmert sich der ältere Bruder fürsorglich um den jüngeren. Marko Mandic gestaltet den älteren Bruder als einen jungen Mann, der ein tadelloses, gebildetes Deutsch spricht, in seiner wenig heimatlichen Wahlheimat jedoch nur als Lagerhilfsarbeiter in einem Supermarkt schlecht bezahlte Arbeit findet und für seinen Bruder jederzeit bereit ist, mitleidlos über Leichen zu gehen. Auch Afrim (Arnel Taci) hat weder im Krieg in seiner Heimat noch im Haussmannstraßenkiez je gelernt, Konflikte gewaltfrei auszutragen. So ist seine Polizeiakte bereits umfangreich.
Ein betrunkener Obdachloser, der seinen Hund auf dem Kinderspielplatz koten lässt, fordert damit Afrims Zorn heraus. Als er diesen ankeift, der Hund habe mehr Recht hier zu sein als er und auch noch Afrims Freundin Jessica eine Nutte nennt, verliert der junge Mann seine Fassung und schlägt den Obdachlosen krankenhausreif. Jordan ist Zeuge dieser Gewalttat, er kümmert sich um den schwer Verletzten und versucht - vergeblich -, die Polizei zum Handeln zu bewegen. Keine Zeit, keine Leute, macht ohnehin keinen Sinn. Afrims Bruder macht Jordan klar, dass eine Anzeige für die Brüder existenziell bedrohliche Folgen haben würde, die er nicht zulassen werde. Als dies auf Jordan zunächst keinen Eindruck macht, schlägt ihn erst Afrims Gang zusammen, der Bruder lässt seinen Schlägergtrupp das Antiquariat verwüsten, bricht ihm einen Finger, verletzt auch Jordans 68’er-Freunde und erpresst den Antiquar schließlich erfolgreich mit der Drohung, er werde sich an dessen kleine Enkeltochter heranmachen.
Nachdem solcherart die Staatsmacht ihr Gewaltmonopol zum Schutze der Schwachen kampflos aufgegeben hat und klar ist, dass es in den Haussmannstraßenquartieren der deutschen Großstädte angezeigt ist, sich der Gewalt der Stärkeren unter den aus der Gesellschaft Ausrangierten und nicht mehr Benötigten zu beugen und zu kuschen, wenn man nicht genügend harte Ellenbogen hat, kommt es zu einer unerwarteten Lösung des Konflikts.
Wie der Münchner Dominik Brunner im Herbst vorigen Jahres so scheitert auch Peter Jordan im Film mit seinem Vertrauen in Ordnung und Gesetz, Staatsanwaltschaft und Polizei; die Polizei kommt den in dem realen Fall wie im Film Zivilcourage zeigenden beiden Männern nicht zur Hilfe, obwohl sie gerufen wurde. Afrims Freundin, die ebenfalls aus einer gescheiterten, aber deutschstämmigen Familie stammende Halbanalphabetin Jessica, demonstriert, wie man unsere Staatsmacht doch zum Eingreifen veranlasst: Sie hat sich das Video unrechtmäßig angeeignet, auf dem alle Gewalttaten ihres Freundes, seines Bruders und beider Gangs aufgezeichnet sind. Jetzt stellt sie dieses Beweismittel ins Netz.
Peter Jordan hat sie mit Hilfe eines gänzlich unkonventionellen, aber jugendgemäßen Zugangs zu Shakespeares Romeo und Julia auf den Geschmack nach Kultur gebracht: Sie will aus dem Leben, wie es in der Haussmannstraße abläuft, aussteigen. Sie will nicht das Leben ihrer Mutter führen, die als Alleinerziehende mit drei Kindern in Apathie und Depression fiel, unfähig, auch nur dafür zu sorgen, dass ihre jüngeren Töchter zur Schule gehen. Man bekommt eine Ahnung davon, dass auch diese Frau nicht immer gleichgültig und lethargisch war, wenn sie die älteste Tochter Jessica verschiedentlich nötigt, ihr Praktikum bei Jordan „durchzuziehen“ und den Schulabschluss zu schaffen – im Übrigen obwohl Jessica kaum lesen kann.
Sie ist die eigentlich Mutige, Engagierte, wenn alle anderen, die 68er, Jordan, seine Tochter, bereits den Kampf aufgegeben haben. Sie verlässt ihren Partner, den sie ehrlich geliebt hat und alle ihre Freunde und Bekannte. Afrims Liebe neben dem Respekt, den er seinem Bruder entgegenbringt, beweisen, dass auch dieser Gewalttäter unter anderen Umständen ein liebesfähiger fröhlicher junger Mann hätte werden können.
Jetzt bewegt sich sogar die Polizei und holt Afrim ab. Hier endet der Film. Aber wir ahnen: Afrim wird aus dem Gefängnis nicht resozialisiert herauskommen, so wenig wie sein Bruder durch eine seinen Fähigkeiten entsprechende berufliche Perspektive sein Leben und Denken reformieren wird. Ob es Jessica mit Hilfe von Peter Jordan gelingt, bei ihrem katastrophalen Wissensrückstand einen Schulabschluss zu machen und einen Beruf zu erlernen, ist fraglich.
Es gibt kein happy end in der Haussmannstraße. Das so krass und ungeschminkt gezeigt zu haben, ist das Verdienst des in Israel geborenen Regisseurs Dror Zahevi, Ex-Student an der Filmhochschule Potsdam.